Verrat als Literatur

Was ist das für ein Dokument, das der britische TV-Sender Channel 4 am ersten Weihnachtstag in Verkehr brachte? Der Kanal setzt eine Tradition fort, bietet eine Alternative zur Weihnachtsansprache der Königin. Die Auswahl der Episoden belegt etwas ziemlich Banales: Durch die Adern der Konkurrenz fließt kein blaues, sondern bloß Celebrity-Blut. Die Speaker reüssierten auf ziemlich unterschiedlichen Tanzflächen. Edward Snowden und der frühere iranische Staatspräsident Ahmadinedschad markieren die politischen Pole. Ihr Take in der Dramaturgie des Senders folgt nicht den eigenen Skripten, sondern einer Agenda des Senders. Was hat Channel 4 dazu bewogen, Edward Snowden zu casten?

Die Erklärung dazu könnten wir bei John le Carré und Thomas Pynchon finden. Hier aber erst einmal die Intervention zu Snowdens Weihnachtsansprache.

Der Zeitpunkt
Wer wendet sich am Weihnachtstag an die nationale, internationale und lokale Öffentlichkeit? Staatsoberhäupter, der Papst, zahllose Pastoren und Priester in ihren Gemeinden. Die Tradition ist verbürgt, das Format gelernt. Weihnachten, Frieden auf Erden, die Geburt eines Knaben, der Gründungsmythos einer Weltreligion, Wunder über Wunder bis hin zur Parthenogenese. Snowden aber ist kein Neugeborener, kein Frühchen, sondern ein informationstechnisch ausgekochtes Früchtchen.

Aus dem Blickwinkel seiner früheren Auftraggeber ist er ein Vertragsbrüchiger, ein Gesetzloser, ein Verräter. Aus dem Blickwinkel seiner Vertriebshelfer ist er ein Renegat, der eine These verifiziert, für deren Verbreitung sie Jahrzehnte lang als Paranoiker ausgelacht wurden. Er profitiert von einer ihm aus opportunistischen Gründen zugesprochenen Heiligkeit, die erste Heiligkeit mit noch unbestimmtem Verfallsdatum. Bevor die befristete Heiligkeit abläuft, ergreift er das Wort, nutzt den mythisch aufgeladenen Zeitpunkt als Verstärker einer Botschaft, die an diesem besonderen Tag aus vielen Gründen befremdet. Erst dachte ich an eine surrealistische Intervention, tatsächlich folgt sie einer volatileren spielerischen Logik, weswegen ich eher dazu tendiere, sie als ein situationistisches Arrangement zu betrachten.

Channel 4 kommt auf seine Rechnung mit dem Scoop. Die alberne Restriktion, das Video nur auf der eigenen Platform zu zeigen, führt zu einem Verpuffungseffekt. Tatsächlich wurde es für Channel 4 zu einem Rohrkrepierer. Denn wer sich an die Bürger der Welt wendet, tut das nicht in den Gemarkungen von Hintertupfingen – und sei das auch so groß wie das Vereinigte Königreich.

Für Snowden ist der Zeitpunkt viel entscheidender. Es kommt Bewegung ins Spiel. Es ist nicht mehr ein altruistisches Spiel, das er aus vermutlich ehrenwerten Motiven begonnen hat und in dem andere Akteure versuchen, den weiteren Verlauf unter Kontrolle zu bekommen. Die Logik dieser Akteure zielt darauf, den für die Dienste und die politisch Verantwortlichen entstandenen Schaden zu begrenzen. Hatten ihre bisherigen Interventionen Snowden zu einem Outlaw erklärt und damit das Ziel verfolgt, mutmaßliche Whistleblower im Wartestand maximal zu verschrecken, haben sie durch kühle Analyse noch nicht eingetretenen Schadens ihre Strategie geändert. Schon gibt es Stimmen aus dem politischen Establishment, die Snowden zu einem patriotischen US-Bürger erklären, der die Verfassung der USA besser verstanden habe als allzu willfährige FISA-Richter.

Das Spiel ist aber noch lange nicht zu Ende, wer es gewinnt völlig unentschieden. Jetzt, am ersten Weihnachtstag, sich an die Weltöffentlichkeit zu wenden, wirkt deshalb wie ein aus der Choreographie der Gerichtsbarkeit entsprungenes und damit etwas in Unwucht gelangendes Plädoyer in eigener Sache. Das kurze Stück von Channel 4 zeigt die unheilige Sechseinigkeit Edward Snowdens, der in seiner Intervention die Rollen des Angeklagten, des Kronzeugen, des Anklägers, des Verteidigers, des Richters und der Jury zugleich spielt. Der Zeitpunkt dieser Intervention am Weihnachtstag, am Fest der Geburt Jesu Christi, der uns von unseren Sünden erlöst, entspricht in der Verfahrenslogik der amerikanischen Strafgerichtsbarkeit einer Grand Jury Sitzung, die darüber entscheidet, ob es zu einem Hauptverfahren kommt und welche Beweismittel dazu zugelassen werden oder ob es zu einem Vergleich kommt, der das Hauptverfahren erspart.

Schließlich müssen wir wegen des Datums dieser Ansprache uns auch auf das abschüssige Gelände einer theologischen Interpretation begeben. Stimmt Snowden ein zivilgesellschaftliches Vaterunser an? Von welchem Übel, neuerdings Bösen, im altgriechischen Text πονηρο? , schickt sich Snowden an, die Welt zu erlösen? Markiert seine Ansprache das posthistorische Gründungsdatum einer weltweiten Zivilreligion, die sich dem über die Stränge schlagenden absoluten Machtanspruch entgegenstellt, weil die politische Klasse im Begriff scheint, das Kräftegleichgewicht der checks and balances zu zerstören? Inszeniert sich Snowden als Religionsstifter? Wäre es deshalb gerechtfertigt, die kurze Ansprache als einen Akt der Hybris zu brandmarken?

Wer redet?
Edward Snowden, ein Auftragnehmer der CIA und der NSA, der seinen Vertragspartnern auf erstaunliche Weise abhanden gekommen ist, ein Staatenloser auf der Flucht, in der Obhut Wladimir Putins, dem es gerade gefällt, die postdemokratische Amplitude absoluter Macht durch Gnadenakte zu zelebrieren, deren Unermesslichkeit das Pegelschwungpotenzial in die andere Richtung der Gnadenlosigkeit illustriert. Es redet ein flüchtiger Ausgesetzter, ein Odysseus in der Nussschale, ein Schutzbefohlener St. Brendans. Als Informatiker bezeugt er ein Damaskuserlebnis. Erst war er maßgeblich daran beteiligt, ein Überwachungssystem in Gang zu setzen, das jeder Idee von Privatheit auf Dauer den Garaus bereitet. Dann sah er ein, dass dieses System alle rechtlichen Maßstäbe obsolet macht, die das Wirken der Dienste an Recht und Gesetz bindet und sie damit politischer Kontrolle unterwirft.

Wir können Snowden aus manchen Gründen als einen Niemand, als einen Odysseus unserer Zeit wahrnehmen. Der Fall Trojas liegt hinter uns. Die Irrfahrt ist noch lange nicht zu Ende. Die Listen und Heldentaten sind noch gar nicht erzählt, von den Prüfungen ganz zu schweigen, die ihm noch bevorstehen.

Ein schmales Hemd mit zu weiten Kragen, ein listiger Nerd, ein Netzwerker, der Erfinder einer List, die wir als das Trojanische Pferd unserer Zeit wahrnehmen könnten: auf jedem Schreibtisch, in jedem Laptoptäschchen, in jeder Hosentasche vibriert und sendet dieses globale Pferd vor sich hin.

Es redet ein Entschlüsselungsheld, ein Sammler und Hermeneutiker, ein Systemadministrator, der aus guten Gründen daran zweifelt, was wir als "unsere Geheimnisse" betrachten. Ein Ökologe der Privatsphäre, deren manifeste Eigenschaften desto ungenauer herumschillern, je weniger wir tatsächlich in der Lage sind, sie als das persönliche Habitat eines jeden Menschen wahrzunehmen, geschweige denn pragmatisch tauglich zu operationalisieren. Wo beginnt sie? Wo hört sie auf? Höchstrichterliche Rätsel wie das Recht der informationellen Selbstbestimmung wirken im Vergleich zu skalierbaren Messergebnissen etwas unscharf, um es vorsichtig zu sagen. Der Gesetzgeber hat es jedenfalls bis heute nicht verstanden, diesem Richterspruch in der Gesetzgebung zu folgen. Vielmehr beobachten wir immer wieder Versuche, das Richterrecht durch neue Akte der Gesetzgebung zu durchlöchern oder zu umgehen.

Es redet ein reuiger Missetäter des Überwachungssystems, der für sich die Rolle eines Kronzeugen beansprucht, aber weit davon entfernt ist, den Schutz eines amerikanischen Gerichts zu finden, weil er sich in der prekären Obhut Wladimir Putins befindet. Betrachteten wir Snowden aus Putins Perspektive, ist er bloß ein Joker im Ärmel, eine Spielkarte, die auf ihren Einsatz wartet.

Was sagt Snowden?
Er beginnt mit einem "Hi". Trivialer geht es nicht. Die lingua franca der Traveller. Hi. Dem Gruß fehlt die bezeugende Zeitangabe. Kein Morgen, kein Tag, keine Nacht. Der Gruß ist zeit- und ortlos, die Erscheinung eines schmalen Hemds mit weitem Kragen grüßt als Pixel mit einem Hi in die Weite der Welt hinaus. Niemand hat an diesem Weihnachtstag auf ein Hi gewartet. Ok, vielleicht der eine oder andere Reisende in den Pampas, in den Weiten Kirgisiens, der Prärien des mittleren Westens, des Massif Central, der urbanen Wüste zwischen Herne und Castrop-Rauxel. Aus dem Hi spricht eine Verhaltenheit, eine Ungewissheit über die Textsorte, die die alternative Weihnachtsansprache verlangt. Immerhin wendet er sich über den regionalen privaten TV-Kanal eines Königreichs an die Weltöffentlichkeit. Ihm fehlt die politische Prärogative, sein Publikum mit "Liebe Schutzbefohlene!" anzureden. Fellow Citizens geht auch nicht, es sei denn, er beriefe sich auf das Weltbürgerrecht. Implizit aber tut er das, denn das Hi nivelliert alle Grußformeln, bedarf keiner Hermeneutik oder lexikalischen Herkunftsanalyse. Es redet von gleich zu gleich. Im Hi erklingt, von ferne, die "égalité" von 1789.

Der zweite Satz ist in meinen Ohren die einzige Kakophonie dieser Ansprache. Sie richtet sich ja auch an die Heiden dieser Welt, an die Agnostiker, an Muslime, an Hindus, an Konfuzianer, an Shintoisten, an Buddhisten, an Zoroastriker und Anhänger zahlloser anderer Verehrungspraktiken. "And Merry Christmas." Das "und" nivelliert die religiöse Wunschformel als untergeordneten Bestandteil der egalitären Begrüßung. Er nimmt Abstand von der amerikanischen Gepflogenheit der "seasonal greetings", die aus Rücksicht auf diverse Glaubensgemeinschaften niemandem zu nahe treten will. Snowden bekennt sich unmittelbar zur christlichen Gepflogenheit der "fröhlichen Weihnachten".

Nun ist diese saisonale Formel, die ein Religionsdatum mit einem Gemütszustand verkoppelt, ja selbst Grund genug dafür, das Publikum in Zweifel zu stürzen. Wer hat darauf gewartet, an diesem Tag von einem tapferen Wendehals des Überwachungsregimes in einen Zustand der Fröhlichkeit versetzt zu werden? Diejenigen, die Snowden als Zeugen dafür betrachten, dass ihre finstersten Ängste sich als begründet herausstellten, haben weder Grund dazu aufzuatmen noch etwa fröhlich zu sein. Diejenigen, die an Recht und Gesetz glauben und der Auffassung sind, dass alles seine gute Ordnung behalten habe, wenden sich befremdet ab: Was bildet der sich ein, uns aus dem orthodoxen Moskau mit seinem merry christmas in die Quere zu grätschen? Das ist die Irritation, wie sie Axel Wallrabenstein zeigte. Mit ihm gewiss zahllose weitere staatstreue Konservative in der weiten Welt da draußen.

Wir können das merry christmas allerdings auch als eine rhetorische Antizipation der Ernüchterung lesen, als eine captatio benevolentiae, die mit dem fröhlichen Gruß die bittere Nachricht so verpackt, dass sie ihre Adressaten auch tatsächlich erreicht, selbst wenn sie darauf an diesem Tag gewiss nicht gewartet haben.

Für diese Annahme spricht auch der folgende Satz: dass er sich geehrt fühlt, an diesem Tag des Jahres mit "Ihnen und Ihrer Familie zu reden". Na ja, sagt da der missmutige Single aus dem grauen Berliner Westen. Von welcher Familie redet das dünne Hemd? Was soll das? Haben wir diesen Zustand der Herkunft nicht mit dem Tod der Altvorderen endlich hinter uns? Welche Bande binden uns noch? Es ist der gute Wunsch der Konvention, an die sich der Staatenlose von Moskau bindet, ein Soziomorphismus in Nachfolge der Baronin Thatcher. Damit liegt die rhetorische Pflicht der captatio benevolentiae hinter dem Redner.

Jetzt kommt er zu seinem Thema: Recently we learned…. Der Bote versteckt die eigene Rolle. Er streift die Haut des Überbringers schlechter Nachrichten ab, macht sich gemein mit seinem globalen Publikum, verstärkt erneut die égalité-Tonalität: we learned! Ihr könnt hinter den Befund nicht zurück: Unsere Regierungen haben als Spießgesellen ein Überwachungssystem etabliert, das alles beobachtet, was auch immer wir tun. Das Bauen von Legokränen, die ersten Versuche mit der nächsten Generation von Modell-ICEs im Hobbykeller von Ingolstadt, das Templiner Putin-Karaoke der Kanzlerin mit Professor Sauer, die Predigtvorbereitung eines kämpferischen Theologen im tiefen Süden Brasiliens, die Umtriebe des neuen Arbeiterpapstes Franz in Rom und wer weiß nicht was noch: die Quizduelle im Internet, die hybride nächste Generation des kommerziellen Internet-Pornogeschäfts zwischen Rumänien und Kolumbien ….

Hat uns George Orwell DAVOR gewarnt? Waren es die Telebildschirme der Überwachung – oder war es die erstaunliche Bereitschaft der Menschen, sich manipulieren und sich unterdrücken zu lassen? In dieser Passage der Weihnachtsansprache greift Snowden zu einem Trick. Er sieht ab von der Anthropologie, von der conditio humana, von den Ideen der Humanisten gleich welcher Glaubensrichtung und Einfalt. Er parallelisiert das Orwellsche 1984 mit der Welt der Informationstechnik, in welcher die subjektive Bereitschaft der Menschen mitzuwirken an den Systemen der Überwachung als ein Akt der Freiheit und Selbstbestimmung, in gelingenden Fällen sogar als Akt industrieller oder künstlerischer Kreation erfahren wird. Orwell warnte nicht vor den Gefahren der Information, er warnte vor der Umformung der conditio humana, vor der beschönigenden Sprache, vor dem Newspeak von 1984.

OK, könnten wir etwas zurückrudern. Der Vergleich mit 1984 dient einem anderen Zweck. Der Stand der Technik, mit dem Orwell seine Dystopie möblierte, ist im Vergleich zum Überwachungsregime von heute lächerlich. Wir ketten uns mit jedem gadget an die Überwachungs-Pipeline.

An dieser Stelle gilt es erneut inne zu halten. Denn tatsächlich parallelisiert Snowden nicht 1984 mit heute. Sein komparativer Bezugspunkt ergibt sich aus dem Datum der Rede, dem christlichen Gründungsmythos, aus der Parallele zur Volkszählung des König Herodes, der Unbehaustheit des Tischlers aus Nazareth und seines Weibes, das Ausgesetztsein im kalten Bethlehem, das in diesem Jahr einen so bitteren Winter erlebte wie im Jahr 1972, als ich von Givath Chaim Ichud mit den anderen Volontären mit Passierschein in das besetzte Gebiet fuhr, bei eisiger Kälte, als Harold Wilson in der Geburtskirche dem Weihnachtsgottesdienst beiwohnte, als die Huren rund um den Souk vor der Kirche ihren Geschäften nachgingen und der Mondastronaut Armstrong amerikanische Hilliebilliechöre auf dem Markt vor der Kirche dirigierte. Snowdens Parallelaktion ist im fundamentalistisch-christlichen Amerika angekommen. Die Bibelfesten unter den Staatsfeinden Amerikas erkennen ihn als Ihresgleichen. Er vertritt durch die Parallele, durch sein Weihnachtsevangelium, den eigenen Fall und bezieht sich nicht mehr auf den porösen Mantel geltenden Rechts, sondern ruft biblische Gründungsmythen zu seiner Verteidigung auf.

Das hat der säkulare Kanal 4 nicht auf der Rechnung. Das haben auch diejenigen nicht auf dem Schirm, die in ihrer säkularen Nüchternheit die Kraft der überlieferten Textsorten aus dem Auge verloren haben. Aber um genau diese Textsorte als Grundlage für Snowdens Berufung geht es. Snowden krönt den Fall unter Berufung auf ein "heute geborenes Kind". Welche väterliche Einfalt verkürzt die hermeneutische Lektüre dieses monströsen Textes, wenn man nur besorgt an das eigene Fleisch und Blut und dessen Zukunft denkt? Welche säkulare Kurzsicht verkennt die strategische Komposition dieses Textes? Wie lange dauert es, bis deshalb die nächsten entmythologisierenden Theologen (NSA-finanziert) eine Fatwa gegen den Bibelschänder Snowden aussprechen?

Jetzt mildern wir das Register der Analyse und schauen uns den Schluss dieses Absatzes an:

A child born today will grow up with no conception of privacy at all.

An der Frage scheitern sogar große Philosophen unserer Zeit. Warum fragt Snowden nicht nach der "idea of privacy", warum nicht nach unserem Verständnis von Privatheit? Warum bringt er "conception of privacy" ins Spiel? Auch diese Formulierung verstärkt den strategischen Zugriff der Weihnachtsansprache auf den christlichen Gründungsmythos der Jungfrauengeburt. Das durch heiligen Geist gezeugte Kind verfügt über keinen Begriff der Empfängnis und damit der Herkunft, die Idee kommt erst später ins Spiel. Das Kind und seine Empfängnis dienen allein dem Zweck, den eigenen Fall wie ein Verteidiger vor der Grand Jury zuzuspitzen: Snowden beruft sich auf familiale Verteidigungsinstinkte. Kein Wunder, dass er mit keiner Silbe die Idee der Privatheit über das heimische Arrangement hinaus illustriert. Das tua res agitur erreicht sein Publikum ungebremst. Er schließt den christlichen Gründungsmythos kurz mit unmittelbaren Verteidigungsinstinkten von heute.

Privacy is what allows us to determine who we are and who we want to be.

Das informationele Selbstbestimmungsrecht kann präziser und einfacher nicht formuliert werden. Die Berufung auf das nichtbiblische Kind erzeugt den globalen Resonanzraum dieser Räson – und verstärkt die Verteidigung seines eigenen Handelns. Der Rest ist nicht ganz triviale Ökonomie und der für eine Rede erforderliche Appell an die Guten da draußen, zu gemeinsamem Handeln zu finden. Ich danke Euch fürs Zuhören und nochmal: Merry Christmas.

Niemand hat auf diese Weihnachtsbotschaft gewartet. Niemand käme auf die Idee, einen aus dem Ruder gelaufenen Spion in sein Wohnzimmer einzuladen und mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Niemand käme auf die Idee, nach dieser Rede den Laptop für den 14jährigen noch enthusiastischer in Betrieb zu nehmen. Welcher Vater wollte auch seinem 14jährigen den Gebrauch von Tor und Kryptographie nahelegen?

Aber darauf läuft es hinaus. Ein Zurück in den unschuldigen Gebrauch der Technik gibt es nicht. Der mythische Resonanzraum der Geburt von Bethlehem beschwört einen globalen Sündenfall und den Versuch, einen Ausweg zu bahnen: zivilisatorisch auf der einen, in der juristischen Causa Snowdens auf der anderen Seite.

Damit komme ich zum Schluss. Ich wollte das schon vorgestern schreiben. Dann übermannten mich Zweifel. Ich könnte auch sagen: buyer´s remorse. Da lagen zwei noch nicht zu Ende gelesene Bücher auf dem Nachttisch: John le Carrés A Delicate Truth – und Thomas Pynchons Bleeding Edge. John le Carrés Held ist ein britischer Karrierediplomat: Toby Bell. Wir könnten seinen Namen auch als "to be bell" lesen: ein Mann in Gewissensnöten, einer, der das doublespeak in Nachfolge der New Labour Regierung satt hat, der keine gute Miene zu einem globalen schmutzigen Spiel machen will. Sein comrade in arms ist ein pensionierter in den Adelsstand erhobener Diplomat, der auf seinem Ruhesitz in Cornwall die Freuden eines in Jahrhunderten überlieferten österlichen Landlebens genießt, ein nostalgischer Trick le Carrés, der ihn als einen glühenden Patrioten und zugleich als wütenden Zeugen eines politischen Niedergangs verstehbar macht, der das Vereinigte Königreich in einem Zangengriff gefangen hält.

Bei Pynchon ist es die hybride Figur Maxines, einer amtlich geprüften Betrugsermittlerin, dem Kind einer durch und durch säkularisierten jüdischen Familie der Upper West Side New Yorks, die die Tricks der Buchhaltung und der politischen Sprache, die jüngere Stadtgeschichte New Yorks, die finstere Seite des Darknets und seiner explorativen Macht am eigenen Leib erfährt und geläutert aus der Katastrophe des 11. September 2001 herauskommt: Sie versteht, dass die Skripte nicht mehr funktionieren. Die Rollen, die uns auf den Leib geschrieben zu sein scheinen, sind inkonsistent, sind porös, sind für die Rückgewinnung von Autonomie durchlässiger, als unsere Überwacher glauben.

Beide Romane haben die erneute Lektüre der Weihnachtsansprache Snowdens beflügelt. Sein Fall ist unentschieden. Seine Intervention mag auch als Hybris verstanden werden.

Edward Snowden hat deutlich gemacht, dass sein Fall auch unser Fall ist.

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