Eine seltsame Veranstaltung war das gestern. Noch ist niemand gewählt. Noch hat niemand eine Regierungserklärung abgegeben. Noch weiß niemand, wo die Reise hingeht. Und schon stellt dieser voreilige Herr Jauch die Frage, wie wir regiert werden. Und ausgerechnet diejenigen sollen die Frage beantworten, die von den Personalentscheidungen der Bundeskanzlerin bzw. ihrer Parteiführungen über Nacht überrascht wurden (oder auch nicht).
Es gehört zu den postdemokratischen Symptomen, dass solche Fragen an dazu kaum geeigneten und schon gar nicht vorgesehenen Orten gestellt und dort dann auf eine Weise beantwortet werden, die nichts Wesentliches mitteilt (auch nicht mitteilen will). Aber auch da scheint es nur noch darauf anzukommen, wie man etwas nicht sagt, um gleich die albernsten Haltungsnoten zu verteilen.
Meine einzige Haltungsnote erteile ich heute Morgen, nach Frank Lübberdings Frühkritik, dem nächsten ARD-US-Korrespondenten Ingo Zamperoni. Denn wie er darauf kommt, dass die neue Bundesregierung sein Nettoeinkommen schmälert, das muss er noch etwas genauer erklären. Denn von der Sekunde, in der er in Washington seinen Dienst antritt, unterliegt er natürlich dem deutsch-amerikanischen Doppelbesteuerungsabkommen, das in der Regel für solche Expats wie ihn überaus günstige Folgen im Vergleich zur deutschen Besteuerung hat. Es gibt zwar zwei unterschiedliche Steuerjahre (in den USA endet das Steuerjahr jeweils im März), aber das hat für ihn die erfreuliche Folge, dass einbehaltene Steuerzahlungen widewidewie (wir kennen das Lied) schon nach drei Monaten erstattet werden statt erst nach 15.
Ingoleins Kinder werden daher nichts zu befürchten haben. Aber weder er noch seine Kollegin Niejahr (von der Zeit) schienen in der Lage, die normativ naheliegende Rolle eines Vertreters der vorgeblichen Vierten Gewalt gegenüber den mutmaßlichen Mitgliedern der nächsten Bundesregierung auch nur im Ansatz wahrzunehmen.
Das beginnt schon damit, dass der uns vorliegende Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD wahlweise wie ein Lottoschein, wie ein Orakel von Delphi bzw. wie eine individuelle Steuerbescheinigung missverstanden wird. Tatsächlich erweist sich dieser Text als eine surrealistische Operation, in der nicht ein Fahrrad und eine Schreibmaschine auf einem Seziertisch zusammenfinden, sondern ganz unterschiedliche Textsorten mit einander verschraubt wurden: ein paar operative Forderungen aus dem SPD-Wahlprogramm (Mindestlohn, Maklervergütung durch Vermieter udgl.), ein paar CDU/CSU-Monstranzen, die irrtümlich als Grundsätze der Euro-Politik gelesen und in keinem Fall der zurückliegenden Beschlüsse tatsächlich eingehalten wurden – den allergrößten Anteil des Textes aber haben – so hört sich das an – die Unterabteilungsleiter der Bundesministerien aus der laufenden Planung ihrer Ressorts als Textbausteine für den Koalitionsvertrag abgeliefert.
Denn das ist das Betriebsgeheimnis der nächsten Bundesregierung. Sie hat nicht nur die bei weitem größte parlamentarische Mehrheit. Sie scheint, das ist meine Prognose, auch fest entschlossen dazu, diese Macht zu gebrauchen: europapolitisch, verfassungspolitisch und im Durchregieren, das der Opposition – wenn überhaupt – von jeder Debattenstunde im Parlament ein paar wenige Minuten mehr zubilligt, als sie es mit ihren 20 Prozent erwarten konnte. Das wirds dann auch gewesen sein.
Das heißt daher nicht, wie werden wir regiert, sondern wie werden wir durchregiert. Noch mal zurück zum Koalitionsvertrag: Dieser Textkorpus zeichnet sich dadurch aus, dass er über die strukturpolitischen Entscheidungen (Europa, bundesstaatliche Ordnung, Neugliederung des Bundes, Finanzverfassung, Finanzierung der Kommunen) wenn überhaupt, dann nur höchst beiläufig hinweggeht. Wir könnten auch sagen: eine einzige zum Himmel schreiende Leerstelle. Das Schweigen darüber, die Verweise auf die zahllosen Details (der Unterabteilungsleiter) sind das Sedativum, das Frau Niejahr und Herrn Zamperoni in Tiefschlaf bzw. ins Greinen versetzt haben. Michelhaftigkeit. Es wirkt so wie das ergotherapeutische Programm für die Langzeitbehandlung eines ADHS-Bengels, der nur durch unentwegtes Rekapitulieren (jetzt der Königin ihr Kind striegeln, dann drei Rechenaufgaben lösen, den Rasen harken, den Hund entflöhen) vom Nachdenken über Wichtigeres abgehalten wird. ADHS der nächsten Bundesregierung heißt, sie werden das Parlament zuerst mit Nickligkeiten fluten und in der Kulisse die Weichen für weitreichende Verfassungsänderungen stellen. Ein Hinweis allein mag ausreichen: Im Koalitionsvertrag steht, dass das Großwerk der ersten Großen Koalition, das Stabilitätsgesetz, auf den Prüfstand gestellt wird. Das klingt alles so harmlos wie nur irgend etwas. Aber darin steckt die Tücke des Details. In diesem Prüfauftrag steckt das Samenkorn bahnbrechenden Wandels.
Colin Crouch sollte die nächsten vier Jahre nach Berlin kommen, um am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung die Maschinerie und Performanz der größten postdemokratischen Veranstaltung der letzten 30 Jahre im Detail zu studieren. Ich jedenfalls freue mich darauf, weil die Textsorten dieser Bundesregierung das Reden der Macht auf die erstaunlichste Weise illustrieren werden.
Update
Hier gehts zum Gespräch mit Tilo Jung über die Sprache des Koalitionsvertrags. Und hier zu den Antworten auf Fragen der Jung & Naiv-Community.